Im Nebel des Satori

Frage:

Ich praktiziere ja jetzt schon seit einigen Jahren Zazen und es ist jedes mal von neuem die Übung der Haltung von Körper und Geist, am liebsten beginne ich mit dem Atemzählen, ich erreiche dabei einen sehr klaren, fokussierten, ruhigen und zugleich offenen Zustand, bei letztlich nur noch 2 Atemzügen pro Minute. Weiter nichts.
Natürlich bringt Meditation viele positiven Aspekte mit sich und ich weiß, dass ihr eine "radikale" Variante praktiziert, einfach sitzen, absichtlos. Mir fällt das nicht schwer es auch so zu tun, aber hätte ich keine Absicht oder keinen Grund würde ich nicht meditieren, denn völlig grundlos oder ohne Hintergrund wäre doch Verschwendung von Energie und Potential.

Erleuchtung/Satori oder vergängliche Zustände anzustreben führt natürlich auch zu nichts es ist ja in gewisser Weise auch wieder nur eine kurze Illusion, die man dann im schlimmsten Fall immer wieder und wieder zu erreichen versucht.

Und jetzt komme ich zu meinem Punkt, es geht mir um das was immer wieder als Erwachen geschrieben und gesprochen wird. Jeder Zen Meister spricht und schreibt von dieser Erfahrung des Erwachens, angefangen mit Buddha selbst, kein Zustand sondern ein Begreifen/Verstehen, die Erfahrung einer Wahrheit, es wird von einem Ort jenseits von Leben und Tod gesprochen.
Jetzt meine Frage und gleichzeitige Bitte um Rat:
Hast du eine solche Erfahrung gemacht?
Kann man diese Zen-Meister wörtlich nehmen, oder handelt es sich, wie in der Bibel, um metaphorische Übertreibungen?
Besteht die Möglichkeit, dass so manche einfach wirklich sehr tief geschlafen haben/ verblendet waren und deshalb die subjektive Erfahrung eines Erwachens beschreiben und dass dann jemand der nicht wirklich schläft auch zu nichts weiter erwachen kann?
Wenn es dieses Erwachen dennoch für jeden gibt, gibt es eine Übung um dem näher zu kommen? Spielt die Dauer einer Meditation dabei eine Rolle?
Es ist nicht so das mich das quält, im Gegenteil, das ist der einzige Sinn, den ich dem Leben abgewinnen kann. Was mich quält ist das ich auf diesem Weg sehr wenig Führung, Unterstützung und Austauschmöglichkeiten habe.
Es gibt nicht gerade viele Zen-Meister in Deutschland und leider hast du gesagt auch kaum noch in Japan. Die Masse hier driftet sofort ab in spirituellen Hokuspokus.

 

Meditation - wie geht das? 

   Wenn jemand für sich allein Meditation praktizieren möchte, sieht er sich zunächst vor die Frage gestellt: Wie lange soll ich sitzen? In der Theorie lautet die einzig richtige Antwort natürlich: So lange du möchtest! In der Praxis sieht die Sache schon anders aus. Ob man kurz oder lang sitzt, wirkt sich nämlich auf die Qualität der Konzentration aus. Wer sich vornimmt, für nur fünf Minuten zu sitzen, wird feststellen, dass es ihm relativ leicht fällt, den Geist für diesen Zeitraum zu fokussieren. Wenn man dagegen, wie es in Antaiji praktiziert wird, jeweils für eine volle Stunde sitzt, lässt sich ein zwischenzeitliches Abgleiten des Geistes fast nicht vermeiden. Andererseits erlangt man nach einer Stunde eine tiefere Geistesruhe als nach fünf oder zehn Minuten.  

   Anfängern wird gerne empfohlen, die Atemzüge zu zählen. So kann man etwa zunächst nur jedes  Ausatmen zählen, und zwar, bis man bei Zehn angelangt ist. Dann fängt man wieder bei Eins an. Viele zeigen sich überrascht, wie schwierig es ist, mehrere Male hintereinander konsequent bis Zehn durchzuzählen, ohne dass sich der Geist in anderen Gedanken verfängt und so die gerade aktuelle Zahl vergisst. Etwas einfacher ist es, einen Countdown zu starten und rückwärts zu zählen, etwa von Hundert bis Null. So hat man den Punkt, an dem die Meditation enden soll, als Ziel immer vor dem inneren Auge.

   Nach längerem Üben wird man feststellen, dass es durchaus möglich ist, gleichzeitig zu zählen und zu denken. Nur: Ist es überhaupt in Ordnung, die – manchmal ja auch ganz banalen – Gedanken im Hintergrund des Zählens weiterlaufen zu lassen? Oder muss man jeden Gedanken einzeln quasi deaktivieren, ehe man wieder zum Zählen zurückkehrt? Wie ist das mit dem Loslassen?

   Wenn man die Gedanken wirklich loswerden will, nützt es natürlich wenig, genau das zu denken. Denn dann hat man ja nur wieder einen Gedanken mehr. Viel hilfreicher ist es, sobald man merkt, dass man sich in einem Gedanken verloren hat, direkt zum Atem zurückzukehren, ohne den Gedanken auch nur noch eines weiteren Gedankens zu würdigen. Durch die erneuerte Konzentration auf das Zählen verschwinden die Gedanken vom Radar des Bewusstseins.

   Für einen Anfänger dürfte diese Rückkehr zum Ausgangspunkt tatsächlich am sinnvollsten sein. Es gibt aber auch eine Variante für Fortgeschrittene. In diesem Fall lässt man den Dingen einfach ihren Lauf. Das heißt, man erlaubt den Gedanken ihr Spiel zu treiben, während man sich einfach immer weiter auf das Zählen der Atemzüge konzentriert.

   Nach einer Weile wird es einem immer besser gelingen, sich so gut auf seinen Atem zu konzentrieren, dass man auch dann das Zählen nicht vergisst, wenn Gedanken im Geist auftauchen. Jetzt kann man zu einer etwas schwierigeren Übung übergehen: auf den Atem achtzugeben, ohne die einzelnen Atemzüge zu zählen. Es kann vorkommen, dass sich der Atemrhythmus verändert, sobald man sich ihn bewusst macht. Dann ist es ratsam, die Konzentration auf ein anderes Objekt zu richten, beispielsweise auf die Körperhaltung oder auf auch eine einzelne Körperstelle – den Bauchnabel oder die Nasenspitze. Alternativ dazu kann man sich auch auf etwas konzentrieren, was man sieht oder hört: den kleinen Fleck dort an der Wand, das leise Ticken einer Uhr. Immer wenn ein Gedanke im Geist auftaucht, kann man dann zu diesem Fleck, zu diesem Ticken zurückkehren.

   Im Westen kennen wir die klassischen fünf Sinne des Menschen: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten. Der Buddhismus spricht dagegen nicht von fünf, sondern von sechs sogenannten Bewusstseinswurzeln. Er betrachtet auch die Gedanken, die in unserem Gehirn auftauchen, als Sinneswahrnehmung. Das mag zunächst überraschen, denn die Gedanken erscheinen uns ja im Gegensatz zu Gesehenem, Gerochenem oder Ertastetem wie etwas, das wir selbst herstellen. Doch wer meditiert, spürt, dass das eigentlich nicht stimmt. Genauso wie wir keinen Einfluss darauf haben, welche Klänge während der Meditation an unser Ohr dringen, können wir auch nicht kontrollieren, welche Gedanken in unserem Geist auftauchen. Das Gehirn funktioniert dann also nicht wie ein unserem Willen unterworfenes Werkzeug, sondern eher wie ein Denkorgan, das Gedanken einfängt wie ein Radio die Frequenzen eines Senders.

   Vielleicht traut es sich jemand zu, das gesamte Spektrum der sechs Bewusstseinswurzeln gleichzeitig zu überblicken, ohne eine davon zu bevorzugen. Das ist sehr schwierig. Oft drängt sich einer der Faktoren, in der Regel sind es die Gedanken, so stark in den Vordergrund, dass der Rest des Spektrums zurücktritt und unscharf wird. Ist aber der Bewusstseinsinhalt unscharf, ist der Meditierende unkonzentriert. Deshalb bietet es sich besonders zu Beginn der Meditation an, den Bereich, auf den man sich konzentrieren will, zu begrenzen: Atem oder Körperhaltung oder Klang.

   Allmählich kann man versuchen, die klassischen fünf Sinneswahrnehmungen in ihrer Ganzheit in den Blick zu nehmen, ehe man in einem letzten Schritt auch die Gedanken in die Meditation mit einschließt. Man kann sich den Aspekt des Bewusstseins, auf den sich der Geist gerade konzentriert, als Standbein vorstellen, wohingegen man die Gedanken als Spielbein bezeichnen könnte. Solange das Standbein dem Geist Gleichgewicht verleiht, macht es nichts, wenn Gedanken durch das Bewusstsein ziehen, wie Wolken am Himmel vorüberziehen. Wenn sich aber das komplette Gewicht auf das Spielbein der Gedanken verlagert hat, sollte man für eine Weile ganz zur konkreten Sinneswahrnehmung zurückkehren, um wieder Halt zu finden. Versäumt man das, wird man irgendwann feststellen, dass nur noch der Körper auf dem Kissen sitzt, der Geist jedoch von den Gedanken weit davongetragen wurde. Aber natürlich ist auch das nicht das Ende der Welt. Sobald man erkennt, dass der Geist nicht mehr im gegenwärtigen Augenblick verweilt, kehrt man zurück zur Wahrnehmung des Körpers.

   In der Regel beruhigt sich der Geist, wenn man über längere Zeiträume hinweg meditiert. Weniger Gedanken tauchen auf, und es wird einfacher, wach und im Augenblick zu sein. Doch selbst dann werden einem immer noch Gedanken „über den Weg laufen“. Manchmal glaubt man dann, einen Fehler gemacht zu haben, und ärgert sich: „Mist, ich war schon kurz vor dem Ende der Sitzung, und jetzt kommt mir auf der Zielgeraden doch noch ein Gedanke in die Quere! Nächstes Mal muss ich mich noch angestrengter konzentrieren!“.

   Für gewöhnlich sitzt jeder zu Anfang einer Sitzung wach und konzentriert, und wenn es nur für eine halbe Minute ist. Dann kommen die Gedanken, was Anfängern genauso wie Fortgeschrittenen widerfährt – Fortgeschrittene werden sich dieser Gedanken nur schneller bewusst. Doch auch sie halten es oft noch für ein Zeichen schlechter Meditation, wenn sie viele Gedanken in ihrem Geist beobachten. Getreu der Maxime: Je weniger Gedanken, desto besser die Meditation. Das Ideal wäre nach dieser Logik eine Meditation völlig ohne Gedanken. Aber das schafft keiner, nicht einmal ein professioneller Zen-Meister.

   Wenn man merkt, dass der Geist nicht mehr im Augenblick, sondern in den Gedanken ist, dann aber in den Augenblick zurückkehrt, hat man alles richtig gemacht. Es gibt keinen Grund, sich schlecht zu fühlen, wenn beim Meditieren Gedanken kommen. Für mich kann ich zwar behaupten, dass ich im Lauf der letzten drei Jahrzehnte immer weniger Gedanken in meinem Geist habe auftauchen sehen. Aber vielleicht weist das ja auch nur auf eine beginnende Verkalkung hin? Fest steht: Man darf durchaus Gedanken beim Meditieren haben. Es ist nur wichtig, sie dann auch als solche zu erkennen und sich nicht von ihnen kidnappen zu lassen.

   Konzentration ist ein Aspekt der Meditation. Der zweite, vielleicht sogar wichtigere ist die Aufmerksamkeit. Es fällt relativ leicht, den Geist in Konzentration zu schulen. Alles, was man dazu braucht, ist Geduld. Aufmerksamkeit dagegen muss sich von selbst entwickeln. Sie erscheint bei der Meditation immer genau dann, wenn man sich des Auftauchens eines Gedankens bewusst wird. Für einen winzigen Augenblick pausiert die Konzentration, und in dieser Unterbrechung zeigt sich die Aufmerksamkeit. Schaffte man es, den Geist tatsächlich für eine halbe oder gar ganze Stunde nur auf den Atem konzentriert zu halten und „gedankenlos“ zu bleiben, hätte die Aufmerksamkeit keine Chance. Ohne aufkommende Gedanken keine Aufmerksamkeit. Die Konzentration richtet den Scheinwerfer des Geistes auf einen Punkt seiner Wahl: den Atem, den Bauchnabel, die Nasenspitze oder das Ticken der Uhr. Die Aufmerksamkeit dagegen wird wachgerufen durch das Flackern in einem Bereich des Bewusstseins, der bis dahin im Dunkel verborgen lag.

   Für den Buddha Shakyamuni war es das Blinken des Morgensterns. Ein chinesischer Zenmönch erwachte aus der Konzentration, als beim Fegen ein Kieselstein gegen den Bambus schlug; ein anderer, als er eine Pfirsichblüte an einem Zweig erblickte. Aber auch ein Gedanke kann eben die Konzentration unterbrechen und die Aufmerksamkeit aktivieren.

   Konzentration und Aufmerksamkeit müssen kooperieren. Sie sind keine Gegenspieler. Konzentration, das ist der Torhüter, der die Augen nur auf den Ball gerichtet hält. Aufmerksamkeit aber ist der Trainer, der stets das gesamte Spielgeschehen im Blick hat, sich zudem der noch verbleibenden Spielzeit bewusst ist und auch die Ersatzspieler auf der Bank nicht vergisst.

   Konzentration geht in die Tiefe, Aufmerksamkeit überblickt die ganze Landschaft des Lebens. Bei der Anwendung der Meditation im Alltag ist es wenig hilfreich, den Geist stundenlang nur auf einen Punkt richten zu wollen. Es kommt einem das Leben dazwischen, der Alltag fordert seinen Tribut in Form von tausend Ablenkungen. Um damit umgehen zu können, reicht es nicht, allein auf den Atem zu achten. Man muss nicht nur lernen, den Geist zu konzentrieren, sondern auch, das ganze Panorama zu überblicken, und zwar ohne dabei irgendeinen Teilaspekt auszulassen. Das wird jedoch nur gelingen, wenn man den Geist zuvor gründlich in Konzentration geschult hat. Wenn nicht, wird man nur die Grobstruktur des Ganzen wahrnehmen und die Kleinigkeiten entgehen einem. Zudem übersieht man sehr leicht, dass sich das, was man für „das Ganze“ hält, gar nicht in den engen, vom Geist gezimmerten Rahmen pressen lässt.

   Wir können uns unseren Geist wie eine große Weide vorstellen. Beim Meditieren erkennt man plötzlich, wie groß die Anzahl der Schafe ist, die sich darauf tummeln. Sie entsprechen unseren Gedanken. Alles geht wild durcheinander: „Ich habe Hunger!“; „ich will hier raus!“, „was läuft heute Abend im Fernsehen?“; „warum verschwende ich eigentlich meine kostbare Zeit mit so etwas?“; „langsam wird es wirklich unangenehm, mir tun schon die Knie weh!“ Ein Gedanke löst den anderen ab, wie blökende Schafe buhlen sie um die Aufmerksamkeit des Meditierenden. Bald glaubt man, dass es die Gedankenmenge ist, die einen daran hindert, sich richtig zu konzentrieren: „Meditation könnte so schön sein – wenn da nur nicht diese Schafherde wäre!“

   Deshalb beginnt man, den Schäfer zu spielen, und versucht, die Schafe hinter einen Zaun zu treiben. Unter ihnen gibt es ja auch noch die nicht so angenehmen Exemplare. Die schwarzen Gedanken-Schafe: Hassgefühle und Aggressionen, peinigende Erinnerungen, Angst vor der Zukunft. Vielleicht schafft man es ja, wenigstens sie vom Rest der Herde zu trennen und in den Stall zu sperren? Aber das wollen sich die Schafe nicht gefallen lassen. Sie brechen wieder aus. Sie springen über all die mühsam errichteten Zäune. Sie fressen das Gemüse im Garten und trampeln auf den Blumen herum. Irgendwann kann man in all dem Durcheinander nicht einmal mehr die weißen von den schwarzen Schafen unterscheiden. Nur die Wut wird immer größer: „Na wartet, ich mache Hackfleisch aus euch!“ Wer verursacht eigentlich das ganze Chaos auf der Weide des Geistes? Sind es wirklich die Schafe? Oder ist es nicht viel eher der Schäfer, der mit seinem neurotischen Verhalten die Schafe erst dazu einlädt, ihn zu ärgern?

   Dabei ist es doch auch für ihn gar nicht so schwer, zur Ruhe zu kommen. Er könnte beispielsweise etwas anderes als seine Schafe betrachten. Da, diese große Eiche zum Beispiel, genau in der Mitte der Weide. Und der Schäfer lehnt sich gegen ihren Stamm, blickt hinauf in die Blätter, lauscht dem Gesang der Vögel und folgt nur dem, was er hört.  

   Das hilft. Wenn einem die Gedanken einen Streich nach dem anderen spielen, konzentriert man sich für eine Weile auf den Atem oder auf die Welt der Klänge. So gelingt es loszulassen. Anders als für die eigenen Gedanken fühlt man sich für Gehörtes in der Regel kaum verantwortlich. Dem Rauschen eines Flusses kann man einfach nur folgen. Bei Musik oder bei menschlichen Stimmen klappt es weniger gut, sie nur an sich vorüberziehen zu lassen. Musik transportiert Emotionen, und Wörter tragen eine Bedeutung, die unsere Gedanken sofort beschäftigt.

   Eine andere Möglichkeit ist es, wie bereits erwähnt, den Geist auf den eigenen Körper zu richten. In Frage käme etwa der Bereich, an dem das Gesäß das Meditationskissen berührt. Sich beim Ausatmen vorzustellen, man würde durch das Gesäß in das Kissen hinein atmen, unterstützt das „Herunterkommen“. Bei Müdigkeit kann man sich auf den Scheitel oder die Nasenspitze konzentrieren. Oft hilft das, wieder wacher zu werden. Auch der Tanden kommt in Frage, eine Stelle ungefähr drei Zentimeter unterhalb des Bauchnabels. Der Tanden bildet so etwas wie die Erdmitte eines jeden Menschen.

   Wenn man sich auf einen bestimmten Punkt des Körpers konzentriert, ist es, als stünde man auf dem Gipfel eines Berges und schaute in die Ferne. Weit unter einem liegt die Weide mit den Schafen. Mit etwas Übung kann man lernen, sich zusätzlich auch noch die Körperwahrnehmung als Ganze bewusst zu machen. Dann spürt man, wie der Atem den Körper durchströmt, wie das Herz schlägt und das Blut pulsiert. Man nimmt nicht mehr nur einen einzelnen Gipfel wahr, sondern überblickt mit einem Mal die ganze Bergkette am Horizont. Jetzt ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch die weite Ebene davor mit in sein Bewusstsein einzuschließen.

   Nun kann man die Schafe einfach gewähren lassen und muss gar keine Anstrengung mehr unternehmen, sie zu bändigen. Mehr noch: Man schickt den Schäfer in den wohlverdienten Urlaub und reißt dann alle Zäune ein. Oder man lässt ihn im Land und erlaubt ihm einfach, sein Spiel mit den Schafen zu spielen. Allerdings, und das ist wichtig, darf man sich dabei weder mit dem Schäfer noch mit den Schafen identifizieren. Der Meditierende gleicht stattdessen viel eher dem Mond, der von hoch oben dem Treiben auf der Weide gelassen zusieht. Irgendwann wird man feststellen, dass die Herde der Schafe viel ruhiger geworden ist. Und vom wütenden Schäfer hört man auch nichts mehr.

   Wenn der Schäfer im Schatten der Eiche seine Schafe vergisst, dann ist das Konzentration. Wenn der Meditierende Schafe und Schäfer zugleich loslässt und die gesamte Weide überblickt, dann ist das Aufmerksamkeit. Die Kunst besteht darin, beim Üben der Aufmerksamkeit nicht den Fokus zu verlieren, denn sonst entgehen einem die Feinheiten der Landschaft.

   Das Gesamte wahrnehmen zu können, ohne das Auge für die Details zu verlieren – kann man das als das Ziel der Meditation bezeichnen?  Wenn man gelernt hat, den Schäfer in den Urlaub zu schicken, glaubt man vielleicht, die Antwort gefunden zu haben: „Ich bin weder eines der Schafe noch ich der Schäfer – ich bin der einsame Mond, der hoch über der Weide allem unbeteiligt zuschaut!“ Für so manchen Meditierenden bedeutet die Erkenntnis, nicht Denker der eigenen Gedanken zu sein, eine regelrechte Offenbarung. Man fühlt sich dann, als säße man allein in einem Kinosaal. Bis eben noch hielt man sich für den Hauptdarsteller des Films und sah die Welt durch seine Augen. Doch durch die Meditation ergibt sich eine andere Perspektive. Nun weiß man, dass einen nichts, was dem Helden zustößt, wirklich tangieren kann. Denn nun weiß man in jeder Sekunde, dass alles, was man sieht, nur ein Film ist.

   Das darf jedoch nicht das Ende der Meditation sein, und das sage ich den Teilnehmern meiner Kurse auch: „Am Anfang werden Sie der Versuchung, den Schäfer zu spielen, kaum widerstehen können. Dagegen hilft, sich für eine Weile in den Schatten der Eiche zu legen, die Berge in der Ferne zu betrachten und, wenn es so weit ist, den Standpunkt des Mondes einzunehmen. Lassen Sie die Schafe und den Schäfer ihr Spiel treiben, schauen Sie einfach unbeteiligt zu. Aber ewig dürfen Sie nicht auf ihrem geistigen Hochsitz verweilen. Kommen Sie zurück vom Mond, kommen Sie wieder auf die Weide. Nicht, um Schäfer zu sein oder um mit den Schafen zu spielen. Sondern, um dem Mond zu erlauben, sich in den Tautropfen und in jeder einzelnen Pfütze zu spiegeln. Sie betrachten die Weide jetzt nicht mehr, nein, Sie werden zur Weide. Sie erlauben den Schafen, auf Ihnen herumzutrampeln, Gras zu fressen und vom Wasser zu trinken. Früher oder später werden sie satt sein und sich zur Ruhe legen. Und dann ist da nur noch eine große Wiese, erhellt vom Mondschein, der die Tautropfen funkeln lässt.“

 

Im Nebel des Satori 

   „Das Leben hat sowieso keinen Sinn“, denkt man manchmal selbst noch nach Jahren der Zen-Praxis, „und wenn ich nie die Erleuchtung finde, kann ich genauso gut auch auf dem Kissen sterben.“ Man hört auf, die Minuten bis zum Ende der Meditation zu zählen, man bewegt auch seine schmerzenden Beine nicht mehr hin und her und man unterlässt es sogar, die Zähne zusammenzubeißen. „Und wenn es das letzte Mal sein sollte – ich gebe jetzt einfach alles an dieses Zazen!“ Aber es ist ja gar nicht das letzte Mal. Man stirbt nicht. Stattdessen macht man die überwältigende und wunderbare Erfahrung, noch am Leben zu sein. Man wacht zum Leben auf in diesem einen Moment und fühlt sich, als würde man auf einer Wolke schweben. Jeder ernsthaft Praktizierende wird es, vor allem während des ersten Jahrzehnts der Übung, immer wieder erleben, dass sich ein Schleier hebt und sich für einen Moment der Glaube einstellt, die Welt in ihrem Innersten verstanden zu haben.

   Doch auch hier ist es wie bei jeder Form von Intensität: Mit der Zeit schwächst sie sich ab. Spätestens nach fünfzehn oder zwanzig Jahren fühlt sich beim Zazen alles „ganz normal“ an. Man sitzt einfach. Wie man auch auf einer Bank im Park oder vor dem heimischen Computer sitzen könnte. Vielleicht fragt man sich dann erneut: Warum mache ich das eigentlich?

   Eines Tages wollte ein Mönch von Dogen wissen, ob auch ein erleuchteter Mensch noch Zazen praktizieren müsse. Wer so fragt, hat mit ziemlicher Sicherheit selbst noch sehr wenig Erleuchtung erfahren. Entsprechend barsch fiel Dogens Antwort aus. Es habe keinen Sinn, sagte er, einem Bergeinwohner zu erklären, wie man ein Schiff segelt.

   Dogen erklärt uns immer wieder, dass echtes Satori nicht irgendwann „beginnt“. Wenn sich ein Anfänger zum ersten Mal auf sein Kissen setzt, ist das bereits ein Ausdruck vollkommenen Satoris. Und so wie Satori keinen Anfang hat, hat die Praxis des Zazen kein Ende. Denn wenn es das Ziel von Zazen wäre, zum Satori zu gelangen, gäbe es ja gar keinen Grund mehr, nach dem Satori noch weiter zu sitzen. Aber Dogen sagt eben, dass wir nicht sitzen, um Satori zu erlangen und zu Buddhas zu werden. Sondern wir sitzen, weil wir Buddhas sind. Wären wir nicht bereits erleuchtet, säßen wir nicht auf dem Kissen. Wir sitzen also in Satori.   

   Und wenn wir einmal nicht sitzen? Was wird dann aus dem Satori? Auch der vorbildlichste Mönch kann nicht 24 Stunden am Tag nur meditieren. Er muss essen, trinken, schlafen, und aufs Klo muss er auch. Ist er nur während des Zazen ein Buddha, und während aller anderen Tätigkeiten ein gewöhnlicher Mensch? Natürlich nicht.

   Die Welt ist ein Spiel um Soll und Haben, ums Gewinnen und Verlieren. Wer sich aus diesem Spiel verabschiedet und sich aufs Kissen setzt – noch nicht einmal in der Absicht, Satori zu erlangen –, der ist bereits ein Buddha. Deshalb muss man es immer wieder betonen: Zazen bringt nichts. Jede Hoffnung auf Ertrag verfehlt das, worauf es wirklich ankommt, nämlich den Absprung aus dem Hamsterrad, in dem sich alle abstrampeln auf ihrer Suche nach dem perfekten Leben, Erleuchtung möglichst inklusive. Wer den Absprung gewagt hat und still auf dem Kissen sitzt, ist ein Buddha. Wer nur davon träumt, ist keiner. Das beantwortet auch die Frage von eben: Ein Buddha hört nicht auf, Buddha zu sein, wenn er eine Mahlzeit einnimmt oder sich wäscht. Ja, nicht einmal, wenn er sich dazu entschließt, ins Hamsterrad zurückzukehren und wieder am Spiel teilzunehmen. Denn dieses Mal wird er das Spiel nach ganz anderen Regeln bestreiten. Nach den Regeln eines Bodhisattvas.

   Man kann sie auch die Regeln der Liebe nennen: sich auf die Seite der Verlierer stellen. Bereit sein, dafür selbst einmal eine Niederlage einstecken zu müssen. Sich über den Gewinn der anderen freuen können. Versuchen, den Mitspielern die Augen dafür zu öffnen, dass sie alle an einem Spiel teilnehmen, bei dem es letztlich auf Gewinn und Verlust nicht ankommt. Denn es ist eben nur ein Spiel. Die Kraft, diese Regeln zu beherzigen, bezieht ein Bodhisattva aus Zazen. Zazen ermöglicht ihm, das Spiel neu wahrzunehmen. Wer einmal Zazen übt, übt ewiges Zazen.

   Im Genjokoan verdeutlicht Dogen das Verhältnis von Satori und Praxis anhand eines konkreten Beispiels. An einem heißen Sommertag fächelt sich ein Zen-Meister Wind zu. Zufällig sieht ihm ein Mönch dabei zu und möchte wissen: „Luft gibt es doch überall, wozu also das Fächeln?“ Mit der Luft ist hier die Buddha-Natur gemeint, und das Fächeln steht für die Praxis. Der Mönch fragt also, warum wir Zazen üben müssen, wenn wir doch nach der Lehre des Buddhismus alle bereits Buddhas und Bodhisattvas sind. „Du weißt zwar, dass es überall Luft gibt, aber du verstehst nicht, wie man die Luft in Bewegung versetzt!“, antwortet der Zen-Meister. „Wie setzt man denn die Luft in Bewegung?“, fragt der Mönch. Woraufhin der Zen-Meister stumm mit dem Fächeln fortfährt.

   Manche Gurus leben nur noch in der Vergangenheit. Die Jahre der Praxis liegen lange zurück, und alles, was ihnen noch bleibt, sind ihre zu Erinnerungen verblassten Erleuchtungserfahrungen, mit denen sie hausieren gehen. Ein echter Buddha dagegen spricht nicht von seinem Buddha-Sein. Er lebt einfach danach.

   Von Teilnehmern an Sesshins höre ich immer wieder Sätze wie diese: „Das mit der Einheit von Praxis und Satori ist ja alles schön und gut. Und auch Dogens Metapher mit dem Fächeln der Luft leuchtet mir ein. Trotzdem habe ich das Gefühl, nicht voranzukommen. Und das, obwohl ich schon so viele Bücher über den Buddhismus gelesen habe. Auch Vorträge habe ich besucht, und ich war Teilnehmer an Meditations-Veranstaltungen ganz verschiedener Meister und Lehrer. Ach ja, seit über einem Jahr esse ich kein Fleisch mehr, ich mache regelmäßig Yoga und jeden Morgen brenne ich vor meinem kleinen Buddha-Altar Weihrauch ab. Zazen habe ich natürlich auch schon ausprobiert. Aber erleuchtet bin ich immer noch nicht! Ich fächle und fächle, doch ich spüre keine kühle Brise! Fächle ich nicht genug? Was zum Teufel soll ich denn noch anstellen?“

    Manchmal macht man einfach zu viel. Auch heute noch verwenden viele Japaner im Sommer Fächer, um für ein wenig kühle Luft zu sorgen. Das erfordert durchaus eine gewisse Fertigkeit. Bewegt man den Arm zu stark, kann einem schnell noch heißer werden. Und nimmt man gar einen zweiten Fächer in die andere Hand, gerät man erst recht ins Schwitzen. Stattdessen darf man den Fächer nur ganz leicht aus dem Handgelenk bewegen, so, als wäre es der Wind selbst, der die gewünschte Kühle herbei weht.

   Wenn Dogen von Satori spricht, meint er damit keine konkrete, möglichst noch exakt datierbare Erfahrung, sondern eine Wirklichkeit, die vor dem Bewusstsein liegt. Eine, die sich nicht auf einer Zeitachse verorten lässt. Satori ist nicht in Zeit und Raum, sondern Zeit und Raum befinden sich in Satori. Was aber kein Leugnen bewusster Erleuchtungserfahrungen bedeutet. Schließlich heißt es, dass auch Dogen erst eine Antwort auf seine Fragen fand, als er von seinem Meister in China die Aufforderung hörte: „Lass Körper und Geist fahren!“

   Warum Dogen solche tatsächlichen Erfahrungen nie in der Vordergrund rückt, sondern sie oft sogar so sehr herunterspielt, dass man fast glauben möchte, es gäbe Satori gar nicht, lässt sich leicht sagen: Satori kann nicht erzwungen werden. Im Shobogenzo Zuimonki, einer Sammlung von Ansprachen und Lehrreden Dogens, heißt es beispielsweise: „Wenn du durch einen dichten Nebel gehst, merkst du nicht, wie dein Kleid die Feuchtigkeit aufnimmt. Und dennoch wirst du eines Tages zu der Tatsache erwachen, dass du pitschnass bist!“

 

   Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? Wie soll ich dieses Leben leben? Wer sich solche Fragen ernsthaft stellt, findet sich in der Irre wieder. Weder die Eltern noch die Lehrer in der Schule und auch nicht die Pfarrer in der Kirche werden in der Lage sein, zufriedenstellende Antworten zu geben. Und ein Zen-Meister wird unter Umständen nur sagen: „Das ist dein Problem!“

   Zumindest ich würde so antworten, begegnete ich heute meinem alten Selbst noch einmal. Nicht weil mich die Frage nicht interessieren würde, aber ich vermag sie eben für mein Gegenüber nicht zu beantworten. Dazu kommt: Genau dann, wenn diese Fragen an einem nagen, wenn sie sich als echtes Problem entpuppen, wenn also aus Zweifeln Verzweiflung wird, dann beginnt der Weg. Und dann muss man geradeaus gehen. Ob der Betreffende es glauben mag oder nicht, er geht dann im Nebel des Satori.

   Mancher Leser wird vielleicht schon von den sogenannten zehn Ochsenbildern gehört haben. In ihnen wird der Weg eines Menschen zu sich selbst beschrieben, also Satori. Auf dem ersten Bild sieht man einen Hirten auf der Suche nach seinem Ochsen. Er steht für einen Menschen, der sich in der Irre befindet und Fragen stellt wie: „Warum bin ich ich und nicht ein anderer? Warum bin ich auf der Welt? Und wer oder was stellt diese Fragen überhaupt?“ Auf dem zweiten Bild erkennt der Hirte Spuren und er bekommt eine Ahnung, wo sich der Ochse versteckt haben könnte. Der Mensch in der Irre findet Hinweise in Büchern, die ihm eine Richtung weisen. Vielleicht begegnet er auch anderen, die sich schon einmal dieselben Fragen gestellt haben wie er. Und dann, auf dem dritten und vierten Bild, hat der Hirte den Ochsen endlich gefunden und packt ihn bei den Hörnern. Was nichts anderes heißt, als dass der Mensch sein wahres Selbst erkannt hat.  

   Tozan heißt der chinesische Zen-Meister, in dessen Tradition Dogen geschult wurde. Man sagt, dass Tozan sich in jungen Jahren im Kloster verzweifelt darum bemüht hat, sein wahres Selbst zu finden. Weil die Suche erfolglos blieb, begab er sich auf Wanderschaft. Eines Tages erblickte er beim Überqueren eines Flusses sein eigenes Spiegelbild im Wasser. Da setzte das Erkennen ein: „Hier gehe ich, ganz allein. Und dennoch begegne ich ihm immer wieder. Er, das bin ich. Ich, das ist nicht er!“ Es ist diese Begegnung mit einem Selbst, das sich nicht auf das gewöhnliche Ich reduzieren lässt, an die wohl die meisten denken, wenn im Zen von Satori die Rede ist.

   Zurück zu den Ochsenbildern. Das fünfte Bild zeigt den Hirten, wie er sich geduldig darum bemüht, den Ochsen zu zähmen. Warum ist das nach dem Satori noch notwendig? Wir kennen Dogens Antwort: Weil die Praxis nicht zum Satori führt, sondern sich Satori in der Praxis manifestiert. Trotzdem kommt einem das Zähmen des Ochsens seltsam vor. Schließlich handelt es sich bei dem Hirten nur um einen verirrten Menschen, während der Ochse für die Wahrheit steht. Sollte es daher nicht umgekehrt sein? Sollte nicht das wahre Selbst als Lehrer des gewöhnlichen Ich fungieren?

   Immer wieder glaubt man während der Jahre der Praxis, Antworten auf alle Fragen gefunden zu haben. Man durchschaut, dass das ganze Gerede von „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und „falsch“ nur Teil des großen Spiels ist, in dem die Menschen sich darum bemühen, so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Diese Erkenntnis führt dazu, dass man sich fortan nicht mehr um die Spielregeln schert und sich nur noch so verhält, wie es einem gerade gefällt. Leider übersieht man dabei, dass man so erneut zum Sklaven seiner Triebe wird. Sicher, es geht im Leben nicht darum, mehr Punkte als die anderen zu sammeln. Aber bei dieser Erkenntnis darf man nicht stehenbleiben. Man muss auch lernen, sich trotz allem an die Regeln zu halten. Nicht um zu gewinnen, sondern um des Spiels selbst willen.

   Für Dogen bilden Praxis und Erweis eine Einheit. Und wie steht es mit dem Erwachen? Nicht durch Kraftanstrengung gelangt man zum Satori. Vielmehr wird man vom Satori abgeholt, um zu praktizieren:

 

   Wen erblickt ein Buddha, wenn er morgens in den Spiegel blickt? Richtig, einen verirrten Menschen, heimgesucht von unendlich vielen Fragen. Doch das Erwachen ermöglicht es ihm, den anbrechenden Tag der Praxis des Weges zu widmen. Wäre er kein Buddha, sondern ein gewöhnlicher Mensch, könnte er sein Verirrt-Sein nicht erkennen. Denn was sieht ein gewöhnlicher Mensch im Spiegel? Höchstens ein paar störende Falten, die er mit etwas Kosmetik überdecken will. 

   Auf dem sechsten Bild reitet der Hirte auf dem Ochsen nach Hause. Das wahre Selbst und das gewöhnliche Ich leben in Einklang. Jetzt erkennt man, dass einen der Weg nicht zum wahren Selbst geführt hat, sondern der Weg vom wahren Selbst gekommen ist. Man wäre nicht in der Lage gewesen, sich aufzumachen, wenn einen das wahre Selbst nicht auf den Weg geschickt hätte.  

   An einer Stelle verwendet Dogen das Bild vom Mond, der in eine Pfütze scheint. Der Mond lässt die Pfütze so, wie sie ist, und doch kann sie sein Licht aufnehmen. Soll heißen: Ein Mensch wird dadurch, dass er zu sich selbst erwacht, nicht plötzlich zu etwas Besonderem. Vielmehr erwacht er zu der Tatsache, dass er nie etwas Besonderes war. Und doch hat er die Erleuchtung erfahren. Die Pfütze wird den Mond nie besitzen, auch wenn sein Licht in ihr scheint. Das Licht des Mondes wird auch dann noch die Nacht erhellen, wenn ein Sturm das Wasser der Pfütze längst in alle Richtungen davongetragen hat.

   Auf dem siebten Bild ist der Ochse nicht mehr zu sehen. Warum verschwindet er und nicht der Hirte? Wenn man auf eines verzichten kann, sollte man meinen, dann doch wohl auf die Pfütze und nicht auf den Mond! Aber das ist noch altes Denken, ein Denken in Unterscheidungen. Es geht allein um den Mond. Die Pfütze gehört zur Welt der Erscheinungen, und damit letztlich zu einer Welt von Lug und Trug.

   Ich glaube, dass dieses siebte Bild die Rückkehr des Menschen zu sich selbst zeigt. Sogar sein Bewusstsein, zu etwas erwacht zu sein, löst sich auf. Er ist eins mit sich, und gleichzeitig ist er so gewöhnlich, wie er es immer war. Auf den ersten Blick hat sich nichts geändert. Am Arbeitsplatz gilt er weiterhin als ganz normaler Kollege, und auch daheim ist alles wie immer. Er ist zurückgekehrt ins alte Spiel und spielt es von Neuem. Aber nun bereitet es ihm auch dann Freude, wenn er mal verliert. Denn er hat gelernt, sich dann mit denen zu freuen, die gewinnen.

   Auf das siebte Bild folgen noch drei weitere. Das achte zeigt nur einen leeren Kreis; das neunte den blühenden Zweig eines Obstbaums, und das letzte schließlich einen lachenden Mann mit dickem Bauch, der sich auf dem Weg zum Marktplatz befindet. Diese drei abschließenden Bilder funktionieren wie eine Zusammenfassung. Noch einmal wird betont, dass das Spiel nur ein Spiel und damit an sich bedeutungslos ist. Eigentlich könnte es der Suchende dabei bewenden lassen, denn er hat das Nirwana für sich bereits erreicht. Aber dann kommen ihm die anderen Spieler in ihrem verzweifelten, freudlosen Kampf um Punkte in den Sinn, und er spürt, wie sich etwas in seinem Herzen regt. Christen würden es Nächstenliebe nennen, Buddhisten sprechen eher von Mitgefühl. Also führt der Weg vom Meditationskissen wieder zurück in die Welt. Zunächst reagieren die Mitspieler verstört. Sie verstehen nicht, wie es jemandem nicht auf das Sammeln möglichst vieler Punkte ankommen kann. Doch dann merken sie, dass der andere weiß, was er tut. Dass er nach seinen eigenen Regeln spielt und es zu genießen scheint. Vielleicht erinnert sie das an die Fragen, die sie sich selbst einmal vor langer Zeit gestellt haben: „Worum geht es bei diesem Spiel? Muss ich wirklich mitspielen? Welchen Sinn wird das Spiel gehabt haben, wenn meine Partie vorbei ist?“

   Die Antwort enthält das letzte Bild. Beim Spiel des Lebens gibt es keine festen Regeln. Es kommt nicht auf die Punkte an, die man erzielt, und es geht auch nicht um Satori. Man kann das Spiel auf vielerlei Weise spielen. Warum also nicht auf die, die allen Mitspielenden am meisten Spaß macht?