Kritisches Denken im Zen - ja oder nein?

Q: Für meine Frage muss ich etwas ausholen: Ich übe seit mehr als einem Jahrzehnt buddhistische Meditation und davon auch seit einigen Jahren Zazen. Besonders von Zenlehrern und Zenlehrerinnen wird nach meiner Erfahrung erörtendes Denken, kritisches Denken und Reflexion als problematisch gesehen, weil es die direkte Erfahrung der Wirklichkeit verhindert. Es wird häufig auch dem Ego zugeschrieben. Meine Zenlehrein ermahnt uns Schüler*Innen oft, dass die Vorstellungen, wie das Leben zu sein hat unser Problem ist, nicht das Leben selbst. Wir sollen aufhören zu kommentieren, kritisieren und zu reflektieren und stattdessen das Leben so leben, wie es sich im Moment in uns entfaltet. Dadurch würde auch Vertrauen in den Fluss des Lebens entstehen. Ich sehe einen gewissen Sinn darin und habe das bisher auch so geübt.

Zitat aus dem Genjokoan:

Ein Fisch stößt an kein Ende des Meeres, so weit er auch schwimmt. Ein Vogel stößt an keine Grenze des Himmels, so weit er auch fliegt. Fisch und Vogel waren von Beginn an nicht vom Meer und Himmel getrennt. Brauchen sie viel davon, so benützen sie einfach viel. Benötigen sie wenig, dann verwenden sie nur wenig. So kommt es niemals vor, dass sie ihren Bereich nicht ganz ausfüllten, und es gibt keinen Ort, an dem sie nicht ihre volle Aktivität entfalten. Wenn ein Vogel den Himmel verlässt, dann stirbt er auf der Stelle. Verlässt ein Fisch das Meer, so stirbt er auf der Stelle. Das Leben wird durch das Meer gelebt. Wisse, dass auch der Himmel Leben bedeutet. Der Vogel verkörpert Leben, der Fisch verkörpert Leben. Und durch das Leben soll der Vogel verkörpert sein, durch das Leben soll der Fisch verkörpert sein. Und darüberhinaus soll es immer weitergehen. Mit dem übenden Bezeugen und allem Lebenden verhält es sich ebenso. Ein Vogel oder Fisch, der zuerst versucht, das Meer und den Himmel zu vermessen, bevor er darin schwimmt oder fliegt, wird weder Weg noch Ort finden, nicht im Meer und nicht am Himmel. An diesen Ort gelangt, diesem Geschäft nachgehen, das ist die Vergegenwärtigung offenbarer Tiefe. An jenen Weg gelangt, jenem Geschäft nachgehen, das ist die Vergegenwärtigung offenbarer Tiefe.

( https://antaiji.org/de/classics/genjokoan/ )

Keine Lust auf gedankenschweres Geschwurbel? Kein Problem! Federleichtes Origami: https://youtu.be/mqptCKDMHFs

Q: Lieber Muho Ich habe meine Frage nochmal gekürzt und etwas päzisiert: Meine Zenlehrerin, ermahnt uns oft, wir sollen nicht auf unser "nörgelndes Ego" hören, das immerzu kommentiert, kritisiert und reflektiert,die Wirklichkeit in Stücke schneidet und einordnet und stattdessen das Leben so leben, wie es sich im Moment in uns entfaltet. Dadurch würde auch Vertrauen in den Fluss des Lebens entstehen.

Für mich macht das durchaus Sinn und ich habe das bisher auch so geübt.

Eine mir Nahe stehende Freundin, war rund 30ig Jahre in einer destruktiven Sekte. Dort wurde u.a. gebilligt, das sie von ihrem Mann, ebenfalls Sektenmitglied, über Jahre vergewaltigt wurde. Auch in dieser Sekte wurde immer gesagt. "Hör auf Dir Gedanken zu machen, vetraue dich Gott an, er regelt das für dich". Das klingt für mich ähnlich wie: "Hör auf zu nörgeln". Nach 30ig Jahren schaffte sie mit Hilfe ihres Hausarztes den Ausstieg. Sie sagt:"Ich hätte den Ausstieg nicht geschafft, wenn ich nicht angefangen hätte kritisch zu denken und zu reflektieren, ich würde mich niemals mehr von diesen wichtigen Fähigkeiten trennen".

Darin sehe ich aber durchaus auch einen Sinn!

Nun frage ich mich: Wie kann ich diese Haltung, das Reflexion und kritisches Denken in gewissen Lebenssituationen durchaus angebracht ist mit der Kritik am diskursiven Denken im Zen zusammen bringen?

Zitat aus "Futter für Pferd und Esel":

Der Schwerpunkt von Dôgens Lehre verschiebt sich gegen Ende seines Lebens. In jungen Jahren ging es ihm in erster Linie um Zazen. Jeder, der sitzt, ist ein sitzender Buddha! In späten Jahren betont Dôgen stärker den Geist des Bodhisattvas. Ein Bodhisattva ist einer, der die eigene Buddhaschaft auf später verschiebt, um in diesem Leben anderen auf dem Weg zu helfen. Auf besonders klare Weise drückt Dôgen das in einem der letzten Kapitel des Shôbôgenzôs aus, das den Titel Hotsubodaishin trägt. „Hotsu“ bedeutet „Anfang“ oder „Aufbruch“, während „Shin“ für den Geist oder auch das Herz steht. „Bodai“ ist die japanische Schreibweise des indischen Wortes „Bodhi“, welches das Erwachen eines Buddhas bezeichnet. In China wurde dieses Wort durch das Schriftzeichen „Tao“ übersetzt, was wiederum „Weg“ bedeuten kann. In diesem Kapitel geht es um das erste Erwecken des erwachten Geistes. Wie ist es möglich, erwachten Geist zu erwecken? Wer erweckt ihn? Und wie drückt sich das Erwachen des Geistes aus? Um all diese Fragen geht es in dem Kapitel, dessen Titel ich ganz frei als „Aufbruch zum Weg des Herzens“ übersetzt habe. Um was für einen Geist oder Herz handelt es sich dabei? Dôgen stellt zunächst drei verschiedene Wortbedeutungen vor:

"Das Wort „Geist“ hat drei verschiedene Bedeutungen: Erstens steht es für Citta, unseren denkenden Geist. Zweitens steht es für Hridaya, das Herz oder die Seele, die auch Gräsern und Bäumen innewohnt. Drittens steht es für Vriddha, die kosmische Weisheit oder die Essenz aller Dinge."

Stellen Sie sich vor, sie säßen in einer Quizsendung und würden gefragt, welche der drei Geistesarten den Geist des buddhistischen Erwachens am besten beschreibt. Geist A, unser alltäglicher, denkender, unterscheidender Geist? Wohl kaum. Geist B, der Lebensgeist, der allen Dingen innewohnt, so eine Art „Anima“? Schon besser, aber nicht so gut wie der Geist C, laut Definition die „kosmische Weisheit“ und die „Essenz aller Dinge“. Es scheint, als könnte die Wahl nicht einfacher sein.

Zitat aus "Futter für Pferd und Esel":

Umso überraschender sind Dôgens folgende Worte:

"Bodhicitta wird von unserem denkenden Geist erweckt. „Bodhi“ ist ein Wort aus Indien. Wir sagen dazu: „Weg“. „Citta“ ist ebenfalls ein Wort aus Indien. Wir sagen dazu: „denkender Geist“. Nur dieser denkende Geist vermag es, Bodhicitta – den Geist des Weges – zu erwecken. Das bedeutet nicht, dass das Denken selbst der Geist des Weges ist. Nein, es ist der denkende Geist, mit dem wir den Geist des Weges erst erwecken."

Das Denken ist nicht der Geist des Weges, aber der Geist des Weges ist auf das Denken angewiesen. Das mag überraschen, denn im Fukanzazengi und Zazenshin spricht Dôgen vom „Undenken“ und „Loslassen der Gedanken“. Im Gakudô-yôjinshû definiert Dôgen den Geist des Weges als das Erkennen der Vergänglichkeit aller Dinge in der Welt. Im Tenzo-kyôkun, den „Anweisungen für den Koch“, schreibt er wiederum:

„Für den Koch bedeutet es Geist des Weges, wenn er die Ärmel weit hochkrempelt.“

Später erklärt Dôgen den Geist in derselben Schrift auf drei verschiedene Weisen: Als freudigen Geist, Elterngeist und großen Geist – drei Begriffe für ein und denselben Geist.

Q: Lieber Muho Es hat mir schon offenbar geholfen, dass ich Dir die Frage stellen konnte. Denn heute morgen kam plötzlich die Lösung angeflogen :-) Ich hoffe Du fühlst dich nicht veräppelt. Ich sass wirklich vorher fest! Ich glaube es ist einfach gemeint, das bewertende Denken zu beobachten, um dadurch erkennen zu können, ob es sich bloss um das "nörgelnde Ego" handelt oder ob daraus eine Erkenntnis hervorgeht, die mich zu einer Handlung, wie z.B. den Sektenausstieg, zwingt. Desweiteren geht es natürlich auch darum zu erkennen, das die Ichperspektive auch durch Denken erzeugt wird und nicht aus sich selbst heraus existiert. Also krtisches Denken erst möglich wird, durch ein Ich, das durch Denken erzeugt wird. Es geht nicht darum das kritische Denken abzuschaffen, sondern es zu erweitern, in dem ich mir der substanzlosen Ich-Perspektive und seiner Wechselwirkungen bewußt werde. So würde ich es mir beantworten. Falls Du noch etwas dazu zu fügen hast, bin ich natürlich offen dafür. Und auch wenn Du findest, das meine Antwort totaler Blödsinn ist.