"Wer bin ich?", Zen-Talk im +Punkt Heidelberg

Interview mit LOGON online: https://www.logon.media/de/vier-interviews-ueber-das-wahre-selbst-teil-2-abt-muho-zen-buddhist-japan

"Der Weg geht zum wahren Selbst. Was bedeutet das wahre Selbst für Sie?"

Der Fragenkatalog beginnt mit einer kuehnen Behauptung: Der Weg geht zum wahren Selbst. Hier haette auch stehen koennen: Der Weg kommt vom wahren Selbst. Oder: Das wahre Selbst geht den Weg. Im Zen spricht man vom Ring des Weges. Das wahre Selbst ist Anfang und Ende dieses Weges. Wenn ich mich frage, was mein wahres Selbst ist, blickt sich das wahre Selbst selbst ins Auge.

"Wer ist der Mensch, bevor das wahre Selbst geschaut / realisiert wird?"

Der Mensch war nie vom wahren Selbst getrennt. Wahrscheinlich lernt er um das zweite Lebensjahr herum, sich langsam mit der Rolle zu identifizieren, die das Spiel des Lebens fuer ihn hat. Er lernt "ich" und "du" zu sagen. Dann, einige Jahre spaeter, fragt er sich: "Warum bin ich 'ich'? Warum nicht ein anderer? Warum bin ich ueberhaupt in der Welt? Und wer oder was stellt diese Frage?" Solche Fragen stellen sich viele Menschen schon als Kinder. In solchen Fragen klingt das wahre Selbst durch, die Erinnerung an den Zustand, bevor man sich mit seiner Menschenrolle identifiziert hatte.

"Wer ist er danach? Geht es um ein Erwachen oder um eine Wesensveränderung, oder…?"

Davor und danach ist er das wahre Selbst. Und wichtig: Auch danach ist er noch Mensch. Es geht darum, ganz als Mensch zu leben, ohne das wahre Selbst, das vor der Identifikation liegt, zu vergessen. Man spielt das Spiel von Neuem, aber nun weiss man, dass es nur ein Spiel ist.

"Kann man etwas dazu sagen, wer den Weg eigentlich geht?"

Der Mensch wuerde den Weg nicht gehen, wenn ihn das wahre Selbst nicht auf den Weg geschickt haette. Das wahre Selbst koennte den Weg nicht gehen, wenn ihm der Menschen nicht Fuesse gaebe.

"Wie schätzen Sie die Bedeutung der Realisierung / der Schau des Selbstes für das tägliche Leben ein? Wie für die Menschheit allgemein?"

Wenn er das Spiel von aussen betrachtet, erkennt der Mensch, dass Gewinnnen und Verlieren bedeutungslos sind. Nun kann er nach neuen Regeln spielen. Das sind die Regeln eines Bodhisattva: Schenken, Worte der Liebe sprechen, fuer andere da sein, keine Unterschiede machen. Mit diesen neuen Regeln macht das alte Spiel mehr Spass. Die Hoffnung ist, auch den anderen Spielern die Augen zu oeffnen. Ihnen dabei zu helfen, sich an ihr wahres Selbst zu erinnern, um zurueckzukommen in den Zustand, bevor es nur noch um das Gewinnen und Verlieren dieser einen Person ging.

Jorge Luis Borges (zitiert von: https://philippe-wampfler.ch/wordpres..https://philippe-wampfler.ch/wordpress/wp-content/uploads/2014/10/Borges-und-ich.pdf ):

Dem anderen, Borges, passiert immer alles. Ich schlendere durch Buenos Aires und bleib stehen, vielleicht schon unwillkürlich, um einen Bogengang und die Gittertür zu betrachten; von Borges erhalte ich Nachrichten durch die Post und lese seinen Namen in einem Professorenkolleg oder in einem biographischen Lexikon. Ich mag Sanduhren, Landkarten, die Typographie des 18. Jahrhunderts, Etymologien, das Aroma von Kaffee und Stevensons Prosa; der andere teilt zwar diese Vorlieben, aber in aufdringlicher Art, die sie zu Attributen eines Schauspielers macht. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass wir auf schlechtem Fuß miteinander stünden; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und diese Literatur rechtfertigt mich. Ich gebe ohne weiteres zu, dass ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten, vielleicht weil das Gute schon niemandem mehr gehört, auch nicht dem anderen, sondern der Sprache oder der Tradition. Im Übrigen ist es mein Los, mich zu verlieren, unwiderruflich, und nur irgendein Moment von mir wird in dem anderen überleben können. Allmählich trete ich ihm alles ab, obwohl ich seine perverse Art des Verfälschens und Vergrößerns kenne. Spinoza meint, dass alle Dinge in ihrem Sein beharren wollen; der Stein will ewig Stein sein und der Tiger Tiger. Ich muss in Borges bleiben, nicht in mir (falls ich überhaupt jemand bin), aber ich erkenne mich in seinen Büchern weniger wieder als in vielen anderen oder im beflissenen Gezupf einer Gitarre. Vor Jahren wollte ich mich von ihm befreien und ging von den Mythologien der Vorstadt zu Spielen mit der Zeit und mit dem Unendlichen über, aber heute gehören diese Spiele Borges, und ich werde mir etwas anderes ausdenken müssen. So ist mein Leben eine Flucht, und alles geht mir verloren, und gehört dem Vergessen, oder dem anderen. Ich weiß nicht, wer von beiden diese Seite schreibt.

Simone Weil (zitiert von: http://www.marschler.http://www.marschler.at/worte-simone-weil.htm):

An die Existenz anderer menschlicher Wesen als solche zu glauben, ist Liebe. Mit reiner Liebe lieben heißt in den Abstand einwilligen, heißt den Abstand verehren zwischen einem selbst und dem, was man liebt.