Wie erkennt man, ob man erleuchtet ist?

Frage: "Es gibt da eine Frage, die mir schon länger unter den Nägeln brennt. Woran erkennt man, dass man erleuchtet ist?"

Zitat aus Dogens "Genjokoan" (https://antaiji.org/de/classics/genjokoan/):

Dich selbst vorantragen, um die zehntausend Dinge zu bezeugen, ist Verirren. Dass die zehntausend Dinge fortschreiten und dich selbst übend bezeugen, ist Erwachen. Die zum Verirren vollkommen erwachen, sind die Buddhas. Die sich im Erwachen heillos verirren, sind die leidenden Wesen. Es gibt Kerle, die noch aus dem Erwachen heraus erwachen, und es gibt Kerle, die sich inmitten des Verirrens noch weiter verirren. Wenn die Buddhas allesamt wahrhaft Buddhas sind, haben sie nicht das Bewusstsein, Buddhas zu sein. Dennoch sind sie bezeugte Buddhas, die fortfahren, Buddha zu bezeugen.

Mein Kommentar aus "Futter fuer Pferd und Esel":

Wichtig ist die dynamische Beziehung zwischen dem Erwachen eines Buddhas und der Irre, in der wir gewöhnlichen Wesen stecken: Ein Buddha erwacht nicht aus der Irre, er erwacht zur Irre. Buddha ist der und nur der, der sein Verirren klar erkennt. Umgekehrt geht der, der nach dem Erwachen außerhalb der Irre sucht, nur noch tiefer in die Irre. Und der, der sich am Ende noch darin irrt, bereits erwacht zu sein, ist der wahrhaftig Irre. Deshalb ist es nach Dôgen auch nicht der Buddha, der sich für einen Buddha hält: „Wenn die Buddhas allesamt wahrhaft Buddhas sind, haben sie nicht das Bewusstsein, Buddhas zu sein.“

Ein altes japanisches Haiku löst den Widerspruch:

Der Schatten der Kiefer

Ist umso dunkler, je heller

Der Mond scheint

Licht und Schatten bedingen sich gegenseitig: So wie es ohne Licht keinen Schatten gäbe, so werden wir uns nur durch das Erwachen des Verirrens bewusst. Und so wie der Schatten uns auf das Licht aufmerksam macht, so wird das Erwachen erst durch das Verirren möglich. Ein Irrer, der meint, nicht zu irren. Wer erkennt, dass er irrt, ist bereits erwacht – ein Buddha. „Bezeugen“ ist Dôgens Ausdruck für die Einheit von Praxis und Erwachen. Praxis hat im Zen-Buddhismus dieselbe Bedeutung wie das Experiment in den Naturwissenschaften, ohne das eine Theorie nicht bestätigt oder widerlegt werden kann. Könnte man sagen, dass wir durch unsere Praxis in Leben und Tod die Wirklichkeit bezeugen? Nein, würde Dôgen sagen, wir müssen noch weiter gehen. Nicht wir sind es, die die Wirklichkeit bezeugen, die Wirklichkeit bezeugt uns. Oder, auf das Leben übertragen: Nicht wir leben das Leben, sondern das Leben lebt durch uns.

Trailer Blueprints for Zen Practice 2020: https://www.youtube.com/watch?v=BLoqdj9of5I

Erwachen ist wie die Spiegelung des Mondes im Wasser. Der Mond wird nicht nass, das Wasser bleibt unberührt.

Das Licht ist weit und groß, trotzdem spiegelt es sich in dieser kleinen Pfütze. Der ganze Mond, ja der ganze Himmel finden Platz in einem einzigen Tautropfen am Gras.

Das Erwachen verbiegt dich nicht, so wie ein Tautropfen Mond und Himmel kein Hindernis bereitet. Die Tiefe ist das Maß der Höhe.

Ist die Zeit kurz oder lang? Um dies zu beurteilen, musst du die die Größe des Wassers und die Weite von Himmel und Mond betrachten.

(Dogen: https://antaiji.org/de/classics/genjokoan/)

 

"Mit der Metapher von Wassertropfen und Mond beschreibt Dôgen das Verhältnis des Einzelnen zum Erwachen. Erwachen bedeutet letztlich nur, die Dinge so zu sehen wie sie sind. Das ist eine Erfahrung, die jedem von uns zugänglich ist: Wir müssen nur die Augen öffnen, hier und jetzt! Wichtig ist, dass diese Erfahrung nicht zum Eigentum des Einzelnen wird, so wie jeder Wassertropfen zwar den Mond reflektiert, aber ihn nicht besitzt. Deshalb wäre es absurd, wenn ein Zenmeister in der Tradition Dôgens erklären würde: „Ich habe das Erwachen!“ Auch wenn der Tropfen den Mond spiegelt, ist der Tropfen immer noch ein Tropfen. Der Mond spiegelt sich in jedem Tropfen, so klein er auch sein mag. Das bedeutet aber nicht, dass der kleine Tropfen, nur weil er sich für einen Moment bewusst wird, dass der Mond sich in ihm spiegelt, plötzlich grenzenlose Ausmaße annehmen würde. Das ist das Paradoxe am Erwachen: Wenn man glaubt, es zu „haben“, träumt man. Zu erkennen, dass es nichts zu „haben“ gibt – das ist Erwachen!"

(Muho in "Futter für Pferd und Esel")