Was ist Gerechtigkeit?

Zitat aus "Zazen oder der Weg zum Glück" (Rowohlt-Verlag):

Ich erinnere mich an einen Tag, als ich vielleicht vier oder fünf Jahre alt war: Meine Mutter gab mir einen Geldschein und bat mich, im Laden um die Ecke ein gebratenes Hühnchen zu kaufen. Der Weg war nicht weit, aber unterwegs traf ich auf ein paar Halbstarke, die Bier aus der Flasche tranken.

Einer von ihnen fragte mich: «Hey, Kleiner, wo willst du denn hin?»

«Meine Mama hat mich zum Einkaufen geschickt!»

«Was willst du denn kaufen?»

«Hühnchen. Da an der Ecke.»

«Hühnchen!? Glaubst du nicht, dass die Kaugummis aus dem Automaten hier besser schmecken?»

Tatsächlich sah der Inhalt des Kaugummiautomaten plötzlich ganz verlockend aus, nur brauchte man Kleingeld, um etwas zu ziehen.

«Mit dem Zehnmarkschein wirst du keinen Erfolg haben. Hier, ich tausche ihn dir gegen drei Groschen!»

Zufrieden lief ich nach Hause, die Kaugummis hielt ich stolz in der Hand. Keine Frage, dass kein Lob, sondern strenger Tadel auf mich wartete – und wieder fiel eine kleine Hoffnung in mir zusammen. Eine ähnliche Erfahrung machte ich später, als meine Mutter einmal vergaß, mich nach der Malstunde an der Schule abzuholen. Damals wohnten wir bereits in Tübingen, doch ich kannte mich in der neuen Stadt noch nicht aus. Nachdem ich eine Stunde umsonst gewartet hatte, setzte ich mich weinend an den Straßenrand. Eine ältere Dame kam vorbei und fragte mich, was los sei und wo ich wohnte. Nachdem wir zehn Minuten gemeinsam gegangen waren, sah ich unseren Häuserblock von weitem auf der Spitze eines Hügels.

«Jetzt weiß ich allein weiter!», rief ich aus. Mein Herz überschlug sich fast vor Freude, als ich eilig nach Hause rannte. Inzwischen war aber auch meiner Mutter die Malschule wieder eingefallen, und wir verpassten uns. Das Haus war leer, und als sie nach einiger Zeit zurückkam, rief sie wütend: «Ich habe dich überall gesucht, warum kannst du nicht einfach warten? Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für Sorgen ich mir gemacht habe!»

Zitat aus dem ersten Manuskript von "Das Meer weist keinen Fluss zurück":

„Ist deine Mutter krank?“, fragten damals die Jungs, wenn einer vergessen hatte, den Hosenstall zu schliessen.

Die Pointe: „Warum hast du denn die Apotheke offen!“

Nachdem ich in die zweite Klasse kam, sprach mich bald keiner meiner Mitschüler mehr auf einen offenen Hosenstall an. „Nein, meine Mutter ist während der Sommerferien gestorben“, als ich das zum ersten Mal sagte, blieb auch dem Klassenrowdy das hämische Lachen im Hals stecken. In der zweiten Klasse fand ich endlich einen echten Freund: Hartmut wohnte im Eschenweg, nur ein Steinwurf vom Eichenweg entfernt. Seine Eltern waren Adventisten, weshalb er als einziger in der Klasse vom verhassten Samstags-Unterricht befreit war. Auch daran mag es gelegen haben, dass er – so wie ich – ein Außenseiter war. Nun hatte ich nicht nur einen Begleiter auf dem Schulweg, sondern auch einen Spielkamerdaen an den endlosen langen Sonntagen. Während die anderen Jungs die Nachmittage auf dem Bolzplatz verbrachten, fuhren wir mit Rollschuhen auf der Wendeplatte oder bauten Plastikmodelle bei einem von uns beiden zuhause. In der dritten Klasse kam Marius neu in die Schule. Seine Eltern waren von der Schwäbischen Alb nach Tübingen gezogen. Jetzt wohnte er im selben Eichenweg wie ich, allerdings im zweiten Wohnblock, dessen Eingänge mit geraden Zahlen nummeriert war.

„Den schnappen wir uns!“, sagte Hartmut gleich nachdem Marius von der Lehrerin der Klasse vorgestellt wurde, und von diesem Tag an waren wir unzertrennliche Freunde. Egal ob es mit dem Fahrrad in den Schönbuch oder im Winter zum Rodeln auf die Schachbaumwiese ging – nie durfte einer von uns dreien fehlen. Drei Finger sind zwar noch lange keine Faust, aber genug um auch einen Regentag mit Brettspielen zu verbringen. Dabei leistete uns irgendwann auch Ulla Gesellschaft, ein Mädchen, das ebenfalls in einem der Wohnblocks an den Wegen, die mit einem „E“ begannen, wohnte. Wie eifersüchtig ich war, wenn sie manchmal nur zu dritt spielten, ohne mich einzuladen! Nach der Grundschule gingen wir gemeinsam auf die Gesamtschule Tübingen, die sich im selben Schulkomplex befand. Dort unterrichteten vorallem junge Lehrer, frisch von der Universität und angespitzt auf den „Marsch durch die Instanzen“. Ich kannte die sechziger Jahre nur durch die Musik, die wir im Musikunterricht von unserem Lehrer vorgespielt bekamen. Z.B. die Beatles, die nicht nur mit ihren schulterlangen Haaren dieser kulturellen Revolution den Weg bereitet hatten. Als John im Dezember 1980 erschossen wurde, ging das auch an Hartmut, Marius und mir nicht vorbei. Der ehemalige Kopf der Beatles war tot. Tagelang, ja wochenlang tönte aus dem Radio seine letzte Single "Woman":

Woman I can hardly express

My mixed emotions and my thoughtlessness

After all I'm forever in your debt [ …]

Woman I know you understand

The little child inside of the man

Please remember my life is in your hands...

Heute würde ich fragen, ob es sich John mit der Erklärung seiner bedingslosen Abhängigkeit von seiner Frau nicht etwas zu leicht macht. Doch als Zwölfjähriger nahm ich ihm seine sanfte Liebeserklärung an Yoko vollkommen ab. Zärtlichkeit war im Kommen...

Ende der sechziger Jahre schien es zum gesunden Menschenverstand der jungen Generation zu gehören, dass die Unterdrückung der Unterprivilegierten gleichbedeutend mit der Unterdrückung der Sexualität ist. Die Lösung der Weltprobeme war einfach: Frieden machen bedeutet Liebe machen! Doch wie „macht“ man Liebe? Jeder wird seine eigenen Erinnerungen an den ersten Sexualkunde-Unterricht haben. Meine würde ich als süss-sauer mit ein weniger Pepperoni beschreiben. Der jungen Lehrerin mit der weit geöffneten Bluse, die uns in Biologie unterrichtete, schien es geradezu Spaß zu machen, uns verstörte Fünftklässler in die knallharten Realitäten des bevorstehenden Sexuallebens einzuführen. Aber was nützt es zu wissen, wie man sich ein Kondom überzieht, wenn man noch nicht einmal weiß, wie meine Freundin findet?

Ulla war jetzt nur noch selten in unserer Gruppe. Sie steckte währtend der großen Pause auf dem Schulhof die Köpfe mit den anderen Mädchen zusammen und tauschte Geheimnisse aus, in die wir Jungs nicht eingeweiht werden durften. Wir Jungs unsererseits taten so, als ob Plastikmodelle immer noch das einzige wäre, was uns interessierte. Das wir in Wirklichkeit in Gedanken und auch mit den Augen bei Ulla waren, die sich zum Star im ganzen Jahrgang entwickelt hatte, wollte keiner von uns zugeben. Und dann passierte eines schönen Tages etwas, womit ich nie gerechnet hätte. In meinem Schließfach fand ich ein zusammengefalltetes Blatt, mit in einer eigentümlichen, krakeligen Schrift beschrieben. Ich brauchte eine Weile, bis ich bemerkte, dass es sich um einen Liebesbrief handelte. Die Absenderin nannte ihren Namen nicht, aber sie schrieb, dass sie mir in der nächsten Unterrichtsstunde tief in die Augen gucken würde – daran könne ich sie erkennen. Von wem der Brief wohl sein könnte? Hildrun, die im Weißdornweg wohnte und der ich einmal ein Hölderlin-Gedicht in ihr Poesie-Album geschrieben hatte (das war aber schon lange her)? Oder war es Sylvia, die wegen ihrer Hornbrille weder bei den Jungs noch den Mädchen allzu beliebt war? Beim Wichteln hatte ich ihr im vorigen Jahr einen kleinen Kaktus geschenkt. Wie sollte ich reagieren, wenn mir das Mädchen gar nicht gefiel? Ich kann sie doch nicht einfach ignorieren, jetzt, wo sie sich den Mut gefasst hat, mir ihre Gefühle zu gestehen!

Nein, es kam ganz anders. Es war Ulla! Ulla, die mir schon seit Wochen auf dem Pausenhof ausgewichen war. Ulla, die selbst mit Hartmut und Marius nur noch manchmal gemeinsam die Nachmittage verbrachte. Ausgerechnet sie, deren Schönheit auch den Jungens aus den höheren Klassen nicht mehr entgangen war, legte während des Unterrichts ihren Kopf auf ihre gefalteten Arme, drehte ihn zu mir, und guckte mir lange, lange in die Augen. Ich war elektrisiert. Meine Augen gehörten Ulla und Ulla allein, und ihre Augen gehörten mir. Natürlich hatte ich auch bis dahin immer wieder einen verstohlenen Blick auf sie geworfen, aber nie hatte sie meine Blicke erwidert. Wie konnte es sein, dass sie sich so plötzlich in mich verliebt hatte? Beinahe glaubte ich an ein unverdientes Geschenk des Himmels. Die nächsten Tage über lebte ich in einer Welt, in der es außer mir und Ulla nur unscheinbare Randfiguren gab. Auch für Hartmut und Marius, die mich in der Pause neckten, hatte ich kaum noch Interesse. „Olaf, du bist in letzter Zeit so verträumt. Erzähl uns, was los ist?“, wollten sie wissen. Was hätte ich antworten sollen? Selbst ich konnte ja noch kaum glauben, was passiert ist. Wie würden die beiden Lachen, wenn sie meine Geschichte hörten? Andererseits: Ullas Brief, den ich sicher unter meinem Bett zuhause versteckt hatte, war wirklich. Jeden abend falte ich ihn auf. Das hilflose Gekrakel auf dem Papier war für mich nichts weniger als die Schrift eines Engels.

Wieviele Tage vergingen, während derer Ulla mich ansah und ich ganz von ihr verschlungen die Welt vergaß, weiß ich nicht mehr. Es können wenige Tage gewesen sein, es fühlte sich aber auch wie Wochen an. Warum bin ich nie auf die Idee gekommen, ihr eine Antwort zu schreiben? Oder habe ich ihr sogar eine Antwort geschrieben? Sicher weiß ich nur, dass ich nie den Mut hatte, sie in der Pause direkt anzusprechen. Aus irgendeinem Grund war sie nach der Schule immer gleich weg, auch an den Nachmittagen traf ich sie nicht vor dem Einkaufszentrum, wo ich sie so oft mit ihren Freundinnen gesehen hatte. Und dann das Unvermeidliche. Wieder fand ich einen Brief im Schließfach, in der selben Schrift verfasst:

„Lieber Olaf! Hast du wirklich geglaubt, dass sich ein Mädchen wie Ulla in dich verlieben würde? Selbst wir sind überrascht, dass uns dieser Streich gelungen ist! Hartmut & Marius“

Warum habt ihr mich gezeugt? – Ein Antinatalist macht seinen Eltern den Prozess https://www.nzz.ch/wochenende/gesellschaft/antinatalismus-dieser-inder-will-seine-eltern-verklagen-ld.1504228?reduced=true

Darf man in Deutschland seine Eltern für die Zeugung verklagen? https://www.nordkurier.de/aus-aller-welt/darf-man-in-deutschland-seine-eltern-fuer-die-zeugung-verklagen-0534748203.html

Das ist der Mann, der seine Eltern für seine Geburt verklagen will: https://www.jetzt.de/liebe-und-beziehung/indien-mann-verklagt-seine-eltern-fuer-seine-geburt

Raphael Samuel auf Twitter & YouTube: https://twitter.com/nihilanand & https://www.youtube.com/channel/UCMKfXN_Y1PbOdPYNZtuQYzQ

Aus weiblicher Perspektive: Warum habt ihr mich nicht einfach nach der Geburt umgebracht? https://www.sueddeutsche.de/leben/indien-wenn-eltern-mit-dem-vornamen-stigmatisieren-1.3254110-2

Frage: "Wann gehe ich gegen etwas vor? Zum Beispiel wenn ich unterdrückt werde, was tue ich dann? Erdulden, ausweichen, kämpfen oder mit meiner guten ZEN Aura vom Gegenteil überzeugen? Was tun? Ist Tun nicht mehr als Wahrheit?"

Muho zum Thema "Wie patriarchalisch ist Zen?" (1. Mai 2020): https://youtu.be/9NFq4maLWuI