Wie sieht Praxis nach der Erleuchtung aus?

Q1: Hi, Maestro, isch hätte da mal ne Fräge: Wie gehst du mit aufkommender Gier um? Ich stelle die Frage bewusst vor dem Schauen des Videos, da es ja wahrscheinlich ( nur ) bedingt miteinander zu tun hat. Eigentlich möchte ich natürlich wissen, wie ICH besser mit meiner Gier umgehen kann. Möglicherweise kann ich von dir lernen. Oder von anderen Kommentatoren. Möglicherweise können wir voneinander lernen. Ha! Aufmerksamkeit . Aufmerksamkeit. AUFMERKSAMKEITr.

Q2: Möchtest Du einmal etwas zum Thema: Leben als Bodhisattva bzw. das Bodhisattva Gelübde bzw. Tugendregeln im Zen sagen? Ich finde es schade, dass im Zen Alltag so wenig darüber gesprochen wird. Auch habe ich das Gefühl, dass die Ethik für die meisten eine Nebensächlichkeit darstellt.

Eine Antwort findest Du in diesem Interview:

Heisan & Muho sprechen über die 4 Gelübde, das Undenken und ihren Exhibitionismus: https://youtu.be/O3jCU9KmoBk

Q3: Ich traue mich auch Mal eine eine Frage zu stellen, könntest du evtl. mal ein Video machen, in dem du auf die Unterschiede zwischen Rinzai und Soto eingehst, vom sitzen über den Unterschied von Fushiryo und Hishiryo bis hin zum Unterschied der Rakusu, alles was dir einfällt, würde mich als blutigen Anfänger sehr freuen etwas darüber von dir zu hören.

Zum Unterschied zwischen Fushiryo und Hishiryo siehe ebenfalls das Interview mit Thorsten Heisan: https://youtu.be/O3jCU9KmoBk

Noch mehr zum Leben als Bodhisattva findet man in meinem Buch "Das Meer weist keinen Fluss zurück", zum Beispiel das folgende:

"Der berühmte Anfang des Dhammapada scheint Parallelen zur Bergpredigt aufzuweisen. Hier wie dort geht es um das Gebot, selbst seine Feinde zu lieben: Hass wird nicht durch Hass, sondern durch Liebe besiegt. Ein Buddhist sucht nach dem Ursprung des Hasses in sich selbst, und er strebt danach, auch die Liebe in sich selbst zu finden. Nur hat man leider noch nie von einem Mönch gehört, der allein durch seine Meditation der Welt Liebe und Frieden gebracht hätte. Der Rückzug in Gleichmut und „Nicht-Hass“ reicht eben nicht aus. Man muss schon etwas aktiver werden, wenn man wirklich für andere da sein will.

Zum Glück kennt die Geschichte des Buddhismus auch dafür Beispiele. Etwa den Mönch Shantideva aus dem achten Jahrhundert. Shantideva lebte im indischen Nalanda, dem größten Lehrzentrum der antiken Welt überhaupt. Berühmtheit hat sein Werk Bodhicharyavatara erlangt, das, so der deutsche Titel, Richtlinien für den Bodhisattva enthält. In diesen geht es darum, der Welt mit Liebe zu begegnen, und dafür genügt es nicht, nur im stillen Kämmerlein zu meditieren. Man muss sich schon nach draußen wagen. Die meisten seiner Verse hat Shantideva so formuliert, als lege er sich selbst und allen anderen Wesen gegenüber ein Gelübde ab. Er geht dabei sehr weit:

Wer hat genug Leder, um damit die ganze Erde zu bedecken? Möge das Leder meiner Sohlen die Erde bedecken, wohin mich mein Schritt auch führt! Möge ich allen Kranken der Welt ein Arzt sein, ein Pfleger und die Medizin sein, die sie von ihren Leiden heilt! Möge ich Speis und Trank vom Himmel regnen lassen. Möge ich in der Hungersnot selbst zur Nahrung der Hungrigen werden! Heil allen, die sich gegen mich vergehen, die mir Böses antun, mich beschimpfen und mich in den Dreck ziehen: Mögen sie Erleuchtung erlangen! Möge ich ein Beschützer der Schutzlosen sein, dem Wegsucher ein Führer und Floß, Brücke und Boot für den Wartenden am Fluss! Möge ich den Ertrinkenden eine Insel sein, ein Licht in der Dunkelheit, ein Bett für die Müden und ein Diener aller, die einen Diener brauchen! Obwohl sich meine Arme und Beine unterscheiden, erhalten sie gemeinsam diesen einen Körper. So ist es auch mit mir und allen Wesen – in unserem Freud und Leid streben wir doch nach demselben Glück. […]

Wenn es mir um dasselbe Glück geht wie den anderen, warum unterscheide ich zwischen ihnen und mir und strebe nur nach dem eigenen Segen? […]

Wenn ich also etwas für die anderen tue, ist das kein Grund auf mich stolz zu sein. Es ist so, als gäbe ich mir selbst. Welche Belohnung sollte ich dafür bekommen? […]

Wer anderen eine Zuflucht sein will, sollte ‚ich‘ und ‚die anderen‘ austauschen. Im selben Augenblick wird er eine geheime Wahrheit verstehen!

Shantideva wird heute besonders im Tibetischen Buddhismus verehrt, während er in Japan kaum bekannt ist. Doch zumindest im Werk Dōgens finden sich an Shantideva erinnernde Passagen. Etwa wenn Dōgen davon schreibt, dass es nie um die Erlösung vom eigenen Leid gehen dürfe, sondern ausschließlich um die Erlösung anderer. Dass man geloben solle, nicht selbst ins Nirwana einzugehen, bevor man nicht alle anderen Wesen dorthin geführt hat. Aber geht das denn? Kann einer, der selbst noch mitten im Leiden steckt, andere von eben diesem Leiden erlösen? Wie soll er anderen den Weg ins Nirwana weisen können, wenn er es selbst doch noch gar nicht erreicht hat? Einwände über Einwände. Ihre Widerlegung wird letztlich wohl nur den überzeugen können, dem es schon einmal gelungen ist, ganz loszulassen und das eigene Glück zugunsten dem der anderen zu vergessen. Denn dann ist er am Ziel angelangt. Der Wunsch, zunächst anderen und dann erst sich selbst zu helfen, ist schon ein Ausdruck von Nirwana. Um es zu erlangen, muss man es ganz und gar vergessen."

Zitat aus "Futter für Pferd und Esel":

Ist der Körper auf diese Weise eingestimmt, dann atme einmal tief durch den Mund aus. Schwinge deinen Oberkörper erst nach links und rechts. Dann sitze reglos wie ein mächtiger Berg in Konzentration und denke auf dem Grund des Nicht-Denkens. Wie denkt man auf dem Grund des Nicht-Denkens? Lass den Gedanken los! Dies macht die Kunst des Zazen aus.

Dogen ging ins Detail, als er die Sitzhaltung erklärte. Selbst die Stellung der Zunge im Mund blieb nicht unerwähnt. Sparsamer mit den Worten ist er dagegen, wenn es darum geht, was wir mit unserem Geist tun mögen: „Lass den Gedanken los!“ Doch das ist einfacher gesagt als getan. Interessant ist, dass Dogen in einer älteren Version des selben Textes noch eine andere, etwas ausführlicher Formulierung wählt. Dort heißt es an diser Stelle: „Wenn ein Gedanke aufkommt, werde ihm bewusst. Nachdem du dir des Gedanken bewusst wirst, lasse ihn los. Wenn du diese Praxis für eine lange Zeit fortsetzt, wirst du ganz von selbst eins werden.“ Heutzutage ist Benutzerfreundlichkeit ein großes Thema. Kaum ein Meditierender wird bestreiten, dass Dogens frühere Formulierunmg sehr viel konkreter ist, als das später „Lass den Gedanken los!“ Wenn ein Gedanken auftaucht, werde dir zunächst einmal des Gedankens bewusst. Im Anschluss lass ihn los. Dann wirst du dir des nächsten Gedankens bewusst. Und lässt den auch los. Und so weiter... Auch diese Praxis ist nicht so einfach wie sie klingt, aber man kann immerhin etwas damit anfangen. Und dennoch hat sich Dogen dafür entschieden, diese Formulierung zu streichen. Warum?

...Hishiryô, der japanische Begriff, den ich hier frei als „Lass den Gedanken los!“ übersetzt habe, bezeichnet den Geisteszustand, wenn sich der Schäfer selbst vergisst und eins wird mit der Weide auf der die Schafe grasen, eins mit dem Himmel, der sich schützend über die Herde spannt. Früher oder später haben sich die Schafe satt gegessen und kehren von selbst in den Stall zurück. Aber das gelingt nur, wenn unser Körper wirklich „wie ein mächtiger Berg“ sitzt, denn nur so wird er auch unserem Geist die Stabilität verleihen, die es ihm erlaubt, zur Weide und zum Himmel für die Schafe zu werden, ohne selbst als eines der Schafe herum zu irren. Wenn wir Zazen mit der Einstellung praktizieren, wir müssten uns ständig der Gedanken bewusst werden, nur um sie dann loslassen zu können, dann ist das so wie ein Kaufhausdetektiv, der ständig nervös auf die Monitore vor ihm blickt. Wo verbirgt sich der Dieb? Hat sich vielleicht einer in einem toten winkel der Sicherheitskameras versteckt. So verbringt der Detektiv tageintagaus auf der Suche nach dem Dieb, ohne zu bemerken, dass er selbst das größte Problem im Kaufhaus seines Geistes ist. Einfach loslassen und sitzen. Dieser Zustand wird im Zen auch so ausgedrückt: Zazen ist die Praxis des Diebes, der in ein leeres Haus bricht – da gibt es nichts zu stehlen, kein Ort um sich zu verstecken, und niemand, vor dem man davon laufen müsste.

...Auch im Kapitel "Zazenshin" verwendet Dôgen den Begriff Hishiryô, hier wörtlich als „Undenken“ übersetzt:

Ein Mönch fragt: "Was für ein Denken wirkt am Ort der Unbewegtheit?"

Der Meister antwortet: "Denken auf dem Grund des Nichtdenkens."

Der Mönch fragt: "Was für ein Denken wirkt auf dem Grund des Nichtdenkens?"

Der Meister antwortet: "Undenken".

Der Grund des Nichtdenkens, von dem von altersher gesprochen wird, ist nichts anderes als das Wirken von "Was für ein Denken wirkt am Ort der Unbewegtheit?". Ist da nicht Denken am Ort der Unbewegtheit? Und wie könnte das Voranschreiten durch den Ort der Unbewegtheit je misslingen? Wenn das, was hier "Undenken" genannt wird, in der Praxis gebraucht wird, strahlt es in heller Klarheit. Wir verwenden es stets, wenn wir auf dem Grund des Undenkens denken. Im Undenken ist einer, einer der mich aufrecht hält.

Wenn Dôgen den scheinbar kryptischen Austausch zwischen Meister und Schüler analysiert, werden wir Zeuge seiner zugleich spielerischen als auch schonungslosen Methode, jeden einzelnen Satz und jedes einzelne Wort darin auseinander zu nehmen, umzuwenden und es von jeder seiner Seiten zu betrachten. So wird aus einer scheinbar harmlosen Frage ("Was für ein Denken wirkt am Ort der Unbewegtheit?") plötzlich eine überraschende Erkenntnis: „Was-Für-Ein-Denken“, diese Frage, die sich im Denken manifestiert ohne vom Denken begriffen und festgehalten werden zu können, ist bereits Wirken des Nichtdenkens, ist nichts anderes als Undenken.

Q4: Gibt es eine spezifische “Praxis” nach einem “Erwachen” (aus der Sicht des Egos). Gibt es Techniken, sich aus einem lähmenden Kensho zu befreien – außer sich von seinem Meister verprügeln zu lassen? Kennst Du ähnliche Schwierigkeiten? Hat es überhaupt Sinn, sich damit zu befassen? Natürlich hat es keinen Sinn. Aber es fühlt sich so wunderbar sinnvoll an. Na ja, ich denke, Du verstehst, was ich meine.

Mehr zum Thema:

(031) Wie erkennt man, ob man erleuchtet ist? https://youtu.be/4j68QCPTI9M

(198) Was ist der Unterschied zwischen einem Satori und einem Kensho? https://youtu.be/H29eO2oklgU

(199) Worin besteht das Verirren? https://youtu.be/YsoMFOyZpmU

Und im Interview mit Thorsten Heisan Schäffer beantworte ich unter anderem die Frage: "Was ist Erleuchtung?" https://youtu.be/MgD3N8D89tE